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Titel
Absurde Angst. Narrationen der Sicherheitsgesellschaft


Autor(en)
Eisch-Angus, Katharina
Erschienen
Wiesbaden 2018: Springer VS
Anzahl Seiten
670 S.
Preis
€ 64,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Regina F. Bendix, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

Erweitert um ein umfängliches Kapitel zur Geschichte der Sicherheitsregime liegt hier Katharina Eisch-Angus‘ Habilitationsschrift als gewichtige Publikation vor. Sicherheit und Versicherung sind wesentliche und konstante Topoi des Alltags, deren Bearbeitung in der Kulturanthropologie bzw. Europäischen Ethnologie jedoch eher selten geblieben sind. Umso erfreulicher ist es, dass Katharina Eisch-Angus gut 50 Jahre nach Konrad Köstlins vor allem auf traditionelle Institutionen fokussierter Dissertation Sicherheit im Volksleben (München 1967) und 30 Jahre nach Ulrich Becks Risikogesellschaft (München 1986), die (Un-)Sicherheit als emotionalen Grundtenor des Risikos wenig thematisierte, mit einer auf dichter, reflexiver Ethnographie fußenden Studie zu diesem Komplex aufwartet. Der Schwerpunkt wird hier auf Narrationen gelegt – ein klug gewählter Begriff, der das im Fach mit Bausingers Essay von 1958 lancierte alltägliche Erzählen genauso einschließt wie die unsichtbaren, aber verinnerlichten Diskurse, die eine Foucault’sche Regimeanalyse offenlegt.

Getragen wird diese Studie durch die Exploration des semantischen und narrativen Antagonismus von Sicherheit und Unsicherheit als paradoxer Grundkonstellation. Verfolgt wird unter anderem die These des ständigen Kippens von Sicherheit in Unsicherheit, und zwar nicht nur anhand des Kommunizierens und Erzählens im Alltag. Auch Phänomene wie Beschilderung und Bebilderung werden eingearbeitet, die vermehrte Intensität und Konnotation von Farben, die Bildung von Nachbarschaftswachen sowie die – nicht zuletzt auch die der Digitalität geschuldete beschleunigte Globalisierung von Kommunikation – immediate Verbindung von Kalamitäten an unterschiedlichsten Orten auf dem Planeten. Flugzeugkatastrophen an entlegenen Orten, Einschlagkrater von Meteoriten am anderen Ende der Welt sind im Alltag genauso vernehmbar wie Einbrüche in der nächsten Nachbarschaft. Nicht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sondern die Ko-Präsenz des territorial Distanzierten hält unsere Geister beschäftigt.

Neben dem aus prekärer ethnographischer Distanz beobachteten Alltag der eigenen, durchaus mobilen Lebenswelt im deutschsprachigen Europa forschte Eisch-Angus auch in der Region von Bristol, Südengland, was das gewinnbringende Element der (relativen) Fremdheit mit sich brachte. Die über ein gutes Jahrzehnt akkumulierte Empirie erlaubte eine Aufnahme von Veränderungen und Intensivierungen des Sicherheitsdiskurses und der assoziierten Herrschaftspraxen ebenso wie deren Diskursivierung im Alltag. Sicherheit war bereits aus der Perspektive eines Malinowski‘schen Funktionalismus ein elementares, Institutionen hervorbringendes Bedürfnis des Menschen. Der hier gewählte interpretative Ansatz ist ideal dafür geeignet, um die überbordenden, alle Grundbedürfnisse übertreffenden Exzesse an Sicherheitsdenken und dessen Implementierung herauszuarbeiten, welche sowohl emotional wie alltagspraktisch an das Dysfunktionale grenzen. Gerade deshalb eignet sich der in dieser Arbeit genutzte Begriff des Dispositivs: Das Sicherheitsdispositiv ist so wirkmächtig, dass es vor der hier titelgebenden Absurdität nicht schützt.

Methodisch hat Katharina Eisch-Angus ihre Affinität für eine bewusste, die Intersubjektivität von qualitativen, empirischen Prozessen betonende Empirie stetig weiterentwickelt. Sie hat Impulse von Utz Jeggle zum Blühen gebracht, sie mit ethnopsychoanalytischen Impulsen erweitert und mit Gleichgesinnten ihrem Arbeiten supervisorische Elemente hinzugefügt. Diese Schritte, die sich in verschiedenen ihrer Publikationen im Lauf der letzten 15 Jahre nachvollziehen lassen, tragen hier Früchte. Eisch-Angus verfolgt ein ethnographisches Ethos, das behutsam kontextualisierend die Vielstimmigkeit ebenso wie die Ambivalenzen des Alltagslebens – und -kommunizierens – aufnimmt. Der Ansatz reichert die Beobachtung und deren Reflexion mit Analyse an und bietet Deutungsangebote im Stil von Clifford Geertz‘ dichter Beschreibung. Die vergleichende Anlage, erwachsen aus dem mobilen Leben der Autorin, resultiert einerseits in lokal viertieften Einblicken in Wahrnehmung, Umgang mit und Narrativierung von (Un-)Sicherheit und andererseits konstanten Erinnerungen und Vergleichsmomenten mit Erfahrungen und Begegnungen in anderen Settings. Diese methodische Anlage wird – für ein Buch, das sich auch für eine interessierte Leserschaft eignet, angemessen – der Leserin sukzessive vermittelt: Methodische Facetten werden entlang der verschiedenen geöffneten Felder eingebracht. So wird im zweiten Kapitel (zu Flugsicherheit und der Erfahrung mit Sicherheitsbeschilderungen) vor allem mit Material aus dem Feldtagebuch gearbeitet. Wie gut sich dies für das Thema eignet, wird zum Beispiel deutlich, wenn Eisch-Angus in ihren Feldnotizen auch die Verwirrung der Feldforscherin widergespiegelt findet. Anstatt wie in klassischen ethnographischen Monographien den geordneten, über den untersuchten Gruppen und Milieus schwebenden Blick der Forschenden in analytischer Eindeutigkeit zu repräsentieren, wird hier, gerade durch diese Technik des gebrochenen und selbstreflexiven Darstellens, ein Zugang zu den Polyvalenzen, die dem Alltagshandeln und Alltagsdenken rund um Sicherheit innewohnen, offengelegt. Ein späteres Kapitel führt ins Alltagserzählen als Teil des Kommunikationsflusses ein und erläutert gleichzeitig die hier bevorzugte Form der Gestaltung von Interviews. Wesentlich ist der intersubjektive Ansatz, der von steuernden Leitfragen absieht und den Gewährspersonen Gestaltungsmacht in der Erarbeitung der Thematik zugesteht. So entstand über die Erhebung vieler Alltagsanekdoten und deren gemeinsamer „Alltagsanalyse“ im Gespräch ein Zugang zu den Feldern, in welchen die Gegenpole von (Un-)Sicherheit gesellschaftlich verortet sind, die wiederum in den weiteren Kapiteln aufgegriffen werden. Das sind insbesondere die Nachbarschaft, das Heimische, Intime, Familiäre, aus welcher das Unheimliche ferngehalten werden soll, wo es gleichzeitig jedoch auch in Konflikt gerät mit staatlichen bzw. öffentlichen Regimes, die dasselbe Ziel, aber in unliebsamer Weise, verfolgen.

Überraschend und produktiv ist die Nutzung des verstorbenen baltischen Erzähl- und Kulturtheoretikers Jurij Lotman, den Eisch-Angus zusammen mit Foucault und Barthes als „semiologischen Mitdenker“ einbringt. In den Kapiteln, die sich mit der Sage oder mit in Emails zirkulierenden und als Fakten verpackten Erzählungen und Kettenbriefen befassen, arbeitet die Autorin in nützlicher Weise mit klassischen Werken der Folkloristik (wie etwa Max Lüthi und diversen Kollegen/innen, die sich mit der Gattung Sage in verschiedenen Medien auseinandersetzen). Die Nutzung einer insgesamt kommunikationsethnographisch sensibilisierten Analyse dürfte beispielhaft sein für weitere Forschungsfelder. Eisch-Angus zeigt damit, wie gewinnbringend gerade die Arbeit mit diesen Ansätzen für ein Verständnis des Sicherheitsdispositivs ist. Die Nutzung der Lotman‘schen Perspektive auf das erzählte „Unvorhersehbare“ als ein Movens der Kultur erscheint jedoch besonders tragend. Die Narrativität der Gefahr erweist sich als eine Unterstützung, ein Antrieb gar für ein sich verdichtendes politisches Sicherheitsregime, gestützt durch ein davon durchaus auch profitierendes, wirtschaftliches Angebot an Sicherheitsgeräten, Kleidung und Mobiliar.

Das Anliegen, Sicherheitsdiskurse im Sinne von Barthes zu entmythologisieren, gelingt in jeder Beziehung. So deckt Eisch-Angus etwa die Paradoxien auf, die, um eines der untersuchten Felder, die Beschilderung im öffentlichen Raum, aufzugreifen, über Schilder wie „mind the gap“ oder „hold the railing“ auf Sichtbares hinweisen und damit eigentlich überflüssig sind. Ihre Rolle besteht eher darin, den Sicherheitsauftrag der jeweiligen Machthaber (hinter welchem in einer Demokratie im Prinzip die mündigen Bürger stehen, über den sie sich aber, in entfremdeter Distanz und in der Intimität des nachbarschaftlichen Alltags, durchaus wieder lustig machen) zum Ausdruck zu bringen.

Katharina Eisch-Angus hat eine anspruchsvolle und gleichzeitig gut lesbare Studie vorgelegt. Sehr viel an Sekundärliteratur nicht nur aus der Empirischen Kulturwissenschaft bzw. Europäischen Ethnologie, sondern auch aus Soziologie, Kulturgeschichte und Philosophie wie auch aus sich für die Thematik ausgezeichnet eignenden literarischen Werken (unter anderem Kafka, Valentin, Camus) wurde herangezogen, in der Hauptsache allerdings in Fußnoten referiert. Gleichzeitig wird die Eignung des ethnographischen Ansatzes für das untersuchte Forschungsfeld evident: Aus der Verunsicherung der ethnographischen Herangehensweise in der Konfrontation mit dem (Un-)Sicherheitskomplex erwächst die Affirmation der für unser Fach, der Europäischen Ethnologie bzw. Kulturanthropologie, zentralen Arbeitsweise.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/